Das Herzstück der homöopathischen Therapie ist die Anamnese. Schon in Samuel Hahnemanns Organon der Heilkunst, dem Basiswerk der Homöopathie schlechthin, sind zahlreiche Kapitel allein der Kunst der Anamnese gewidmet – so wichtig wurde schon in der Frühzeit der Homöopathie das ausführliche Gespräch mit den Patienten bewertet [Hahnemann 2006].

Die homöopathische Anamnese ist aus theoretischen Materialien nur begrenzt zu erlernen [z.B. Schmidt 1960, Gawlik 1997]. Wichtig hierbei ist es, einem erfahrenen Kollegen über die Schulter schauen zu können, um die Anamnesetechnik in der Praxis mitzuerleben und zu erlernen.

Die Kenntnis einiger Rahmenbedingungen ist sehr hilfreich:

  • Jeder einzelne Patient wird detailliert zu seinen Beschwerden und Problemen befragt [Hahnemann 2006, §§ 83–104].
  • Der homöopathische Arzt sollte bei der Anamnese ganz unbefangen sein und „gesunde Sinne“ besitzen – Hahnemann sprach sehr treffend vom „vorurtheilslosen Beobachter“ [Hahnemann 2006, § 6].
  • Die Anamnese beginnt schon, wenn der Patient zur Tür hereinkommt: Wie ist sein Händedruck, seine Haltung, sein Aussehen?
  • Eine offene Frage zu Beginn könnte lauten: „Welche Sorgen und Beschwerden haben Sie?“ [Dorcsi 2005]. Nun lässt man den Patienten möglichst spontan von seinen Beschwerden und Problemen berichten, ohne ihn zu unterbrechen (Spontanbericht).
  • Im anschließenden Lenkbericht werden durch möglichst offen formulierte Fragen die anamnestischen Angaben präzisiert. Beispiel: „Können Sie den Schmerz näher beschreiben? Wodurch verschlimmert oder verbessert er sich? usw.
  • Ergänzend lohnt es sich häufig, anhand des so genannten Kopf-zu-Fuß-Schemas die verschiedenen Körperregionen (Kopf – Hals – Brust – Bauch usw.) nochmals durchzugehen, damit keine wesentlichen Informationen vergessen werden.

Gerade zu Beginn der Praxistätigkeit eignen sich hierzu Fragebögen bzw. Checklisten. Hier ein Beispiel aus der Pädiatrie:

Abb. Checkliste bei chronischen Erkrankungen bei Kindern [Lucae 2003]

  • Der Arzt zeichnet alle Symptome gewissenhaft auf und versucht dabei, auch die eigenen Worte und Formulierungen des Patienten zu berücksichtigen.
  • Am Schluss des Anamnesegesprächs sollten nicht nur die körperlichen Symptome genau aufgezeichnet worden, sondern auch ein „Bild“ des Patienten entstanden sein: Welche besonderen Charaktereigenschaften hat er? Was hat er für Vorlieben und Abneigungen? Was hat er für eine Geschichte? Was bewegt ihn? Welche Sorgen, Ängste und Hoffnungen hat er? Im Sinne einer personotropen Medizin hat Mathias Dorcsi dies auf den Punkt gebracht mit der Frage: „Was ist das für ein Mensch?“ [Dorcsi 2005].
  • Unbenommen von den Besonderheiten der homöopathischen Anamnese werden selbstverständlich alle vorliegende Befunde und Berichte gesichtet, notwendige Untersuchungen durchgeführt und die Anamnese durch die Familien- und Sozialanamnese komplettiert.

Nun ist die homöopathische Anamnese abgeschlossen. Im Idealfall hat eine Begegnung zwischen Therapeut und Patient stattgefunden. Eine solche, umfassende Anamnese sollte am Beginn jeder Behandlung chronischer Krankheiten stehen.

Für die Anamnese werden in der Regel Gesprächszeiten von 60-90 Minuten angegeben. Natürlich ist dies nicht immer so: In der Akutsprechstunde ist dies anders, hier reichen unter Umständen 5,10 oder 15 Minuten für die Erhebung des akuten Beschwerdebildes. Darüber hinaus gibt es methodisch bedingte Varianten der homöopathischen Anamnese, beispielsweise bei der Polaritätsanalyse [vgl. Teut 2016].

Literatur

Dorcsi M: Die Wiener Schule der Homöopathie. Grundlagen, Arzneimittellehre, Symptomenverzeichnis. Herausgegeben von Dr. med. Mira Dorcsi-Ulrich, Dr. med. Christian Lucae, Dr. med. Sigrid Kruse. 5. verbesserte und erweiterte Auflage. Göppingen: Staufen-Pharma 2005

Gawlik W: Die homöopathische Anamnese. Stuttgart Hippokrates 1997

Hahnemann S: Organon der Heilkunst. Neufassung der 6. Auflage mit Systematik und Glossar. Von Josef M. Schmidt. 2. Aufl. München: Elsevier 2006

Lucae C: Die homöoopathische Anamnese in der Pädiatrie. AHZ 2003; 248: 5-13

Schmidt P: Die homöopathische Sprechstunde – Die Kunst des Befragens. Zeitschrift für Klassische Homöopathie 1960; 4: 160-175

Teut M, Dahler J, Lucae C, Koch U: Kursbuch Homöopathie. 2. Aufl. München: Elsevier 2016